Texte zu catonbed.de


Mai 2006






Hermann Kleinknecht:
Zu den Fotografien von Jan-Michael Sobottka


Den Oberkörper leicht zurückgenommen, Spielbein und Standbein sicher aufgesetzt, die kleine Digitalkamera in Brusthöhe aufs Objekt gerichtet, welches auf der Rückseite im Farbdisplay sichtbar ist:
Jan-Michael Sobottka ist in seinem Element. Er fotografiert vielleicht gerade eine ihm unbekannte Person, oder richtiger, er hält seine momentane Beziehung zu dieser fest. Die Fotografie erinnert nicht an etwas, sie selbst ist die Erinnerung.
Das Motiv, wie man früher sagte, kommt nicht aus der Vorstellung des Fotografen, es wird fotografiert, d.h. digital codiert und stellt sich visuell dar. Das heißt auch: Je höher die Auflösung, desto präziser das Abbild. Das Bild ist sofort da, es kann aber auch sofort gelöscht sein, Abfall sein. Welches Bild bleiben wird, wird später nach der Bearbeitung
am Computer entschieden, welcher das spontan inszenierte Foto als elektronische Bilddatei für das Internet abrufbar macht.
Sobottkas Fotos sind einfach und klar. In ihrer Betrachtung ist der bloße Wiedererkennungseffekt nur eine der Sehmöglichkeiten. Vorrangig ist die Präsenz des Bildes als subjektiv erlebter Moment.

"Eine schöne Nacht, eine wirlich sehr schöne Nacht ! Das ist noch gar nichts, du hättest erst mal ein Foto von ihr sehen sollen !"   Gerald Domenig, 1981

(Der Videokünstler Hermann Kleinknecht begleitet mich seit Sommer 2005 häufig auf meinen Besuchen durch die Berliner Galerien)




Juni 2006






Heinrich Dreidoppel:
Der Fotograf
aus der Serie Metropolenpeople

Suchen Sie etwas?“ rufe ich zu dem Mann im weißen Hemd hinüber, der mit großer Warenhauspapiertüte an der einen und Tasche an der anderen Hand über den Hauptweg kommt.
Ich nehme ihn zum zweiten Mal wahr, denn als ich wenige Minuten vorher am Friedhofbrunnen das Glas von Monikas Grabvitrine reinigte, sah ich ihn zum ersten Mal – an unserem Grab – stutzen, stehenbleiben und betrachten – und sah auch, daß er merkte, daß ich ihn beobachtete. Dann ging er.
Nun – einige Minuten später – sitze ich auf dem Grab, und er kommt auf meine Frage hin auf mich zu.
Das Grab sei ihm eben aufgefallen. Er guckt zu den in den Stein eingelassenen Namen hin. „Dreidoppel?“ Er erinnere den Namen aus seiner Vergangenheit, könne aber nichts finden und ob ich mit einer Frau xy, einer Medizinerin, zu tun hätte. Ich sage, daß es in Berlin nur zwei „Dreidoppel“ gäbe, meinen Sohn und mich, daß es ein „Übername“, also ein die Person charakterisierender Name „wie Doppler, Dobler, Däbler“ sei, Würfelspieler bedeute und im rheinischen Westerwald seit mindestens drei Jahrhunderten verbreitet vorkomme.
Ob er vielleicht Kunstpädagogik studiert habe, frage ich. Er hat ein klar geschnittenes, markantes Gesicht, welliges, dichtes braunes Haar und wirkt auf mich wie ein Intellektueller oder ein Künstler. Tatsächlich: er hat Kunstpädagogik studiert, in Berlin an der HdK. In der Hardenbergstraße oder in Lankwitz? Nein, nicht bei den „Kartoffeldruckern in Lankwitz“, sondern in der Grunewaldstraße in Schöneberg – also bei den Künstlern für die Kunstpädagogik an Sekundarstufen II. Ich erkläre ihm, daß ich Einiges veröffentlicht hätte, das etliche Kunstpädagogen in ihrem Studium oder in ihren Referendarzeiten hätten lesen können oder müssen – daher kenne er vielleicht den Namen „Dreidoppel“. Nein, daran erinnert er sich nicht.
Zu meiner Verwunderung innerlich plötzlich wieder betroffen vom ehemaligen, stadtbekannten dünkelhaften beleidigenden Vorwurf der „Grunewaldstraßen-Künstler“ gegen die „Kartoffeldrucker“, die ehemaligen Berliner Kunstpädagogen der Pädagogischen Hochschule in Berlin-Lankwitz, erläutere ich ihm, daß die „Kartoffeldrucker“, seit 1980 in die HdK integriert, dort einen in der ganzen Republik sehr gut beleumdeten Fachbereich für „Kunst- und Kulturwissenschaften und ästhetische Erziehung“ aufgebaut hätten – den die HdK, die spätere UdK Berlin Mitte der neunziger Jahre aus Spargründen habe schließen müssen.
Ob ich denn dieser Dreidoppel sei, der Kunstpädagogisches veröffentlicht habe und hier neben seiner Frau begraben sein wolle.
Er wendet sich wieder dem Grab zu. Die ungewöhnliche Grabgestaltung finde er schön, wenn er so sagen dürfe. Er weist auf die Vitrine mit den Steinen. Ob dort Steine lägen, die etwas mit meiner Frau zu tun hätten. Ich sage ihm, daß ich die meisten Steine nach ihrem Tod gesammelt und hierher gebracht hätte. Eben hätte ich wieder einen Stein, den grünen, hier abgelegt, einen vom Strand einer Bucht in Sounion, Attika, wo ich gerade drei Wochen verbracht hätte. Zu jedem der Steine gebe es eine Geschichte. Die Grabanlage habe ein Berliner Konzeptkünstler – Manfred Miersch – für mich und mit mir entworfen. Ich erläutere noch dies und jenes zur Grabgestaltung und zu Manfred Miersch, der Theremin, Trautonium und Subharchord wiederentdeckt habe und Theremin spiele. Aber er weiß nicht, was das ist, so daß ich das kurz erklären muß.
Ich lade ihn ein, sich auf das Grabumfassungsmäuerchen neben mich zu setzen und sich auch von den kleinen süßen Walderdbeeren auf dem Grab zu nehmen. Er setzt sich neben mich, pflückt einige Erdbeerchen und ißt sie. Süß. Dadurch bin ich verführt, nun auch noch dies und jenes zur Grabbepflanzung und zu einzelnen Pflanzen zu erläutern.
Ob er ein Foto von der Vitrine machen dürfe. Dann zeigt er mir das Foto auf dem Bildschirm seiner Digitalkamera. Sie hat eine hohe Auflösung. Von neun Millionen spricht er. Er fragt, ob er „Porträtaufnahmen“ von mir machen dürfe und macht erst zwei und dann noch ein Foto, das er anders belichtet und ausleuchtet. Ich kann es nicht so genau erkennen und verzichte darauf, seine Kamera in die Hand zu nehmen und mir seine Fotos genauer anzusehen.
Er habe schon soviel von mir erfahren, sage ich, jetzt wolle ich etwas über ihn wissen. Was er auf dem Friedhof mache. Er habe das Grab von Marlene Dietrich fotografiert – das mache er schon lange und immer wieder, das verändere sich nämlich dauernd – zu Anfang hätten immer ganz viele Briefchen dort gesteckt, jetzt werde es allmählich ziviler. Es sei eine Kultstätte.
Er habe nach dem Studium gemalt, habe sich als Maler versucht und sei auch ganz erfolgreich gewesen – mit Hofer-Gesellschaft- und DAAD-Stipendien und so weiter, aber er sei nicht zufrieden, sondern auf der Suche gewesen. Nebenher habe er wie viele Kunstpädagogen und Künstler an Volkshochschulen Kurse gegeben. Spät erst habe er sich entschlossen, in die Schule zu gehen. Jetzt sei er froh über seine Stelle. Seit fünfzehn Jahren sei er Kunsterzieher an einer Schule in Neukölln. Im bekannten Problembezirk also. Ja, aber er habe keine Probleme mit den Schülern. Sein zweites Fach sei Werklehre, aber er mache jetzt Computerunterricht, lege bei den Schülern die Fundamente für die Arbeit mit dem Computer, Grundlagen, die ja auch viele Ältere nicht hätten.
Irgendwann frage ich nach seinem Alter: er sei Jahrgang 1953 und nun 53 Jahre alt. Mit dem Tod habe er sich noch nicht auseinandergesetzt, wohl aber mit der Endlichkeit. – Das muß ich mir merken, denke ich: „sich mit der Endlichkeit auseinandersetzen“. –
Was er hier und jetzt tue, das sei er. Man dürfe nicht auf die Erfüllung von Hoffnungen und Wünschen warten. Darum könne er sagen, er sei Fotograf. Es habe mit dem Fotografieren der Schüler für die schulische Website begonnen, seitdem fotografiere er Schüler und andere Menschen. Ganz gute Porträts seien ihm ab und zu gelungen, denn er habe ein Gespür für den richtigen Moment, in dem er Menschen so festhalten könne, wie er sie sehe. Ob das Foto, das er von mir machte, mehr als ein Zufallsprodukt ist?
Über tausend Fotos habe er auf seiner Website.
Heute morgen habe er zwei Kinder gesehen, ein fünfjähriges Kind und sein zwei- oder dreijähriges Geschwister, das jüngere Kind sei hingefallen, habe aber vor Schreck nicht geweint. Da sei es schön zu beobachten gewesen, wie das ältere Kind das jüngere aufgehoben und getröstet habe. Das habe er nicht fotografiert. Ich spüre, daß ihn diese Beobachtung bewegt hat. Er ist ein sensibler und kommunikativer Mensch voller Empathie.
Einmal, als das Holocaustmahnmal noch nicht gebaut gewesen sei, sei ihm dort in der Nähe, wo damals Wüstenei und die Baustellen der Bundesländerbotschaften gewesen seien, ein Mann im blauen Anzug entgegengekommen, der eine klassisch ausgepellte Banane gegessen habe. Aus mehreren Metern Entfernung habe er ihm zugerufen: „Bitte bleiben Sie stehen. Ich möchte sie so fotografieren.“ Als er dem Mann das Foto gezeigt habe, habe der gesagt: „Sehr schön. Meine Frau hat Krebs.“ Genau so. Warum immer dieser Mann das gesagt habe, wisse er nicht, aber die Fotografie habe etwas ausgelöst.
Er habe ein sehr gutes Projekt für sich entdeckt: er fotografiere Ausstellungseröffnungen, die Menschen bei Eröffnungen, die Büffets, die angebotenen Biersorten, die Details des Drumherums, die Kunstwerke nur am Rande. In ein paar Jahren wisse keiner mehr etwas. Er habe ein Foto mit Beuys und zweien seiner Studenten gesehen von 1974. Die Namen der Beuysschüler kenne keiner mehr. Alles gehe so bald verloren. Er wolle Zeugnisse schaffen. Ich solle mir seine Homepage im Internet ansehen. Ich könne ihm auch mitteilen, wie ich seine Arbeiten fände. Er ist offenbar daran interessiert, jemanden Kompetenten zu finden, der ihm den ideologischen und kunstwissenschaftlichen „Überbau“ zu seiner Foto-Arbeit schreiben kann. Wer mache, sagt er, müsse sich auf`’s Machen konzentrieren.
Wir tauschen unsere Visitenkarten aus. Er hat eine Visitenkarte, die aus einem mit kleinen Zeichnungen bedrucktem Karton besteht, auf dem er rückseitig seine Website catonbed.de, „Katze auf dem Bett“, wie er erklärt, und seinen Namen handschriftlich notiert hat. Am nächsten Freitag, also übermorgen, werde in der Berlinischen Galerie eine Ausstellung mit Schülerarbeiten zum Motiv „Express Yourself“ gezeigt. Was die Schüler gemacht hätten, hielte sich künstlerisch in den engen Grenzen des Üblichen, aber er habe die Preisträger mit ihren Arbeiten fotografiert.
Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch endet, jedenfalls zeigt er mir zum Schluß noch, was er eingekauft hat: einen grauen Anzug, secondhand, für 25 Euro. Er brauche einen Anzug – wahrscheinlich für die Ausstellungseröffnungen. Ich sage ihm, daß ich im vorigen Jahr für ca. 500 Euro einen Anzug am Ku’damm gekauft hätte, der nach einem Abend des Am-Tisch-Sitzens Falten in den Ärmelknicken bekommen habe, die nicht wieder herausgegangen seien. Er habe sich mal einen teuren Mantel, Kaschmir, gekauft mit dem er durch den Regen gelaufen sei – er laufe viel, er habe keinen Führerschein – der sei jetzt verdorben und gekrümpelt, weil das Futter oder das Inlett anders auf den Regen reagiert habe als der Oberstoff.
Wir geben einander zum Abschied die Hand. Ich denke, daß wir einander wiedersehen werden.
Jan Sobottkas Website catonbed.de will ich mir erst ansehen, wenn ich die flüchtige Begegnung mit ihm aufgeschrieben haben werde.


Heinrich Dreidoppel, Metropolenpeople,
Aufzeichnungen zu flüchtigen Begegnungen,
bisher unveröffentlicht, 21.Juni 2006


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. . . . . . . . Jan-Michael Sobottkajansobottka@gmx.de
Stand 7 / 06
Foto oben: Lippmann, 2005

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