|
Heinrich Dreidoppel: Der
Fotograf
aus der Serie Metropolenpeople
Suchen
Sie etwas? rufe ich zu dem Mann im weißen Hemd hinüber,
der mit großer Warenhauspapiertüte an der einen und Tasche
an der anderen Hand über den Hauptweg kommt.
Ich nehme ihn zum zweiten Mal wahr, denn als ich wenige Minuten
vorher am Friedhofbrunnen das Glas von Monikas Grabvitrine reinigte,
sah ich ihn zum ersten Mal an unserem Grab stutzen,
stehenbleiben und betrachten und sah auch, daß er merkte,
daß ich ihn beobachtete. Dann ging er.
Nun einige Minuten später sitze ich auf dem Grab,
und er kommt auf meine Frage hin auf mich zu.
Das Grab sei ihm eben aufgefallen. Er guckt zu den in den Stein
eingelassenen Namen hin. Dreidoppel? Er erinnere den
Namen aus seiner Vergangenheit, könne aber nichts finden und
ob ich mit einer Frau xy, einer Medizinerin, zu tun hätte.
Ich sage, daß es in Berlin nur zwei Dreidoppel
gäbe, meinen Sohn und mich, daß es ein Übername,
also ein die Person charakterisierender Name wie Doppler,
Dobler, Däbler sei, Würfelspieler bedeute und im
rheinischen Westerwald seit mindestens drei Jahrhunderten verbreitet
vorkomme.
Ob er vielleicht Kunstpädagogik studiert habe, frage ich. Er
hat ein klar geschnittenes, markantes Gesicht, welliges, dichtes
braunes Haar und wirkt auf mich wie ein Intellektueller oder ein
Künstler. Tatsächlich: er hat Kunstpädagogik studiert,
in Berlin an der HdK. In der Hardenbergstraße oder in Lankwitz?
Nein, nicht bei den Kartoffeldruckern in Lankwitz, sondern
in der Grunewaldstraße in Schöneberg also bei
den Künstlern für die Kunstpädagogik an Sekundarstufen
II. Ich erkläre ihm, daß ich Einiges veröffentlicht
hätte, das etliche Kunstpädagogen in ihrem Studium oder
in ihren Referendarzeiten hätten lesen können oder müssen
daher kenne er vielleicht den Namen Dreidoppel.
Nein, daran erinnert er sich nicht.
Zu meiner Verwunderung innerlich plötzlich wieder betroffen
vom ehemaligen, stadtbekannten dünkelhaften beleidigenden Vorwurf
der Grunewaldstraßen-Künstler gegen die Kartoffeldrucker,
die ehemaligen Berliner Kunstpädagogen der Pädagogischen
Hochschule in Berlin-Lankwitz, erläutere ich ihm, daß
die Kartoffeldrucker, seit 1980 in die HdK integriert,
dort einen in der ganzen Republik sehr gut beleumdeten Fachbereich
für Kunst- und Kulturwissenschaften und ästhetische
Erziehung aufgebaut hätten den die HdK, die spätere
UdK Berlin Mitte der neunziger Jahre aus Spargründen habe schließen
müssen.
Ob ich denn dieser Dreidoppel sei, der Kunstpädagogisches veröffentlicht
habe und hier neben seiner Frau begraben sein wolle.
Er wendet sich wieder dem Grab zu. Die ungewöhnliche Grabgestaltung
finde er schön, wenn er so sagen dürfe. Er weist auf die
Vitrine mit den Steinen. Ob dort Steine lägen, die etwas mit
meiner Frau zu tun hätten. Ich sage ihm, daß ich die
meisten Steine nach ihrem Tod gesammelt und hierher gebracht hätte.
Eben hätte ich wieder einen Stein, den grünen, hier abgelegt,
einen vom Strand einer Bucht in Sounion, Attika, wo ich gerade drei
Wochen verbracht hätte. Zu jedem der Steine gebe es eine Geschichte.
Die Grabanlage habe ein Berliner Konzeptkünstler Manfred
Miersch für mich und mit mir entworfen. Ich erläutere
noch dies und jenes zur Grabgestaltung und zu Manfred Miersch, der
Theremin, Trautonium und Subharchord wiederentdeckt habe und Theremin
spiele. Aber er weiß nicht, was das ist, so daß ich
das kurz erklären muß.
Ich lade ihn ein, sich auf das Grabumfassungsmäuerchen neben
mich zu setzen und sich auch von den kleinen süßen Walderdbeeren
auf dem Grab zu nehmen. Er setzt sich neben mich, pflückt einige
Erdbeerchen und ißt sie. Süß. Dadurch bin ich verführt,
nun auch noch dies und jenes zur Grabbepflanzung und zu einzelnen
Pflanzen zu erläutern.
Ob er ein Foto von der Vitrine machen dürfe. Dann zeigt er
mir das Foto auf dem Bildschirm seiner Digitalkamera. Sie hat eine
hohe Auflösung. Von neun Millionen spricht er. Er fragt, ob
er Porträtaufnahmen von mir machen dürfe und
macht erst zwei und dann noch ein Foto, das er anders belichtet
und ausleuchtet. Ich kann es nicht so genau erkennen und verzichte
darauf, seine Kamera in die Hand zu nehmen und mir seine Fotos genauer
anzusehen.
Er habe schon soviel von mir erfahren, sage ich, jetzt wolle ich
etwas über ihn wissen. Was er auf dem Friedhof mache. Er habe
das Grab von Marlene Dietrich fotografiert das mache er schon
lange und immer wieder, das verändere sich nämlich dauernd
zu Anfang hätten immer ganz viele Briefchen dort gesteckt,
jetzt werde es allmählich ziviler. Es sei eine Kultstätte.
Er habe nach dem Studium gemalt, habe sich als Maler versucht und
sei auch ganz erfolgreich gewesen mit Hofer-Gesellschaft-
und DAAD-Stipendien und so weiter, aber er sei nicht zufrieden,
sondern auf der Suche gewesen. Nebenher habe er wie viele Kunstpädagogen
und Künstler an Volkshochschulen Kurse gegeben. Spät erst
habe er sich entschlossen, in die Schule zu gehen. Jetzt sei er
froh über seine Stelle. Seit fünfzehn Jahren sei er Kunsterzieher
an einer Schule in Neukölln. Im bekannten Problembezirk also.
Ja, aber er habe keine Probleme mit den Schülern. Sein zweites
Fach sei Werklehre, aber er mache jetzt Computerunterricht, lege
bei den Schülern die Fundamente für die Arbeit mit dem
Computer, Grundlagen, die ja auch viele Ältere nicht hätten.
Irgendwann frage ich nach seinem Alter: er sei Jahrgang 1953 und
nun 53 Jahre alt. Mit dem Tod habe er sich noch nicht auseinandergesetzt,
wohl aber mit der Endlichkeit. Das muß ich mir merken,
denke ich: sich mit der Endlichkeit auseinandersetzen.
Was er hier und jetzt tue, das sei er. Man dürfe nicht auf
die Erfüllung von Hoffnungen und Wünschen warten. Darum
könne er sagen, er sei Fotograf. Es habe mit dem Fotografieren
der Schüler für die schulische Website begonnen, seitdem
fotografiere er Schüler und andere Menschen. Ganz gute Porträts
seien ihm ab und zu gelungen, denn er habe ein Gespür für
den richtigen Moment, in dem er Menschen so festhalten könne,
wie er sie sehe. Ob das Foto, das er von mir machte, mehr als ein
Zufallsprodukt ist?
Über tausend Fotos habe er auf seiner Website.
Heute morgen habe er zwei Kinder gesehen, ein fünfjähriges
Kind und sein zwei- oder dreijähriges Geschwister, das jüngere
Kind sei hingefallen, habe aber vor Schreck nicht geweint. Da sei
es schön zu beobachten gewesen, wie das ältere Kind das
jüngere aufgehoben und getröstet habe. Das habe er nicht
fotografiert. Ich spüre, daß ihn diese Beobachtung bewegt
hat. Er ist ein sensibler und kommunikativer Mensch voller Empathie.
Einmal, als das Holocaustmahnmal noch nicht gebaut gewesen sei,
sei ihm dort in der Nähe, wo damals Wüstenei und die Baustellen
der Bundesländerbotschaften gewesen seien, ein Mann im blauen
Anzug entgegengekommen, der eine klassisch ausgepellte Banane gegessen
habe. Aus mehreren Metern Entfernung habe er ihm zugerufen: Bitte
bleiben Sie stehen. Ich möchte sie so fotografieren.
Als er dem Mann das Foto gezeigt habe, habe der gesagt: Sehr
schön. Meine Frau hat Krebs. Genau so. Warum immer dieser
Mann das gesagt habe, wisse er nicht, aber die Fotografie habe etwas
ausgelöst.
Er habe ein sehr gutes Projekt für sich entdeckt: er fotografiere
Ausstellungseröffnungen, die Menschen bei Eröffnungen,
die Büffets, die angebotenen Biersorten, die Details des Drumherums,
die Kunstwerke nur am Rande. In ein paar Jahren wisse keiner mehr
etwas. Er habe ein Foto mit Beuys und zweien seiner Studenten gesehen
von 1974. Die Namen der Beuysschüler kenne keiner mehr. Alles
gehe so bald verloren. Er wolle Zeugnisse schaffen. Ich solle mir
seine Homepage im Internet ansehen. Ich könne ihm auch mitteilen,
wie ich seine Arbeiten fände. Er ist offenbar daran interessiert,
jemanden Kompetenten zu finden, der ihm den ideologischen und kunstwissenschaftlichen
Überbau zu seiner Foto-Arbeit schreiben kann. Wer
mache, sagt er, müsse sich auf`s Machen konzentrieren.
Wir tauschen unsere Visitenkarten aus. Er hat eine Visitenkarte,
die aus einem mit kleinen Zeichnungen bedrucktem Karton besteht,
auf dem er rückseitig seine Website catonbed.de, Katze
auf dem Bett, wie er erklärt, und seinen Namen handschriftlich
notiert hat. Am nächsten Freitag, also übermorgen, werde
in der Berlinischen Galerie eine Ausstellung mit Schülerarbeiten
zum Motiv Express Yourself gezeigt. Was die Schüler
gemacht hätten, hielte sich künstlerisch in den engen
Grenzen des Üblichen, aber er habe die Preisträger mit
ihren Arbeiten fotografiert.
Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch endet, jedenfalls
zeigt er mir zum Schluß noch, was er eingekauft hat: einen
grauen Anzug, secondhand, für 25 Euro. Er brauche einen Anzug
wahrscheinlich für die Ausstellungseröffnungen.
Ich sage ihm, daß ich im vorigen Jahr für ca. 500 Euro
einen Anzug am Kudamm gekauft hätte, der nach einem Abend
des Am-Tisch-Sitzens Falten in den Ärmelknicken bekommen habe,
die nicht wieder herausgegangen seien. Er habe sich mal einen teuren
Mantel, Kaschmir, gekauft mit dem er durch den Regen gelaufen sei
er laufe viel, er habe keinen Führerschein der
sei jetzt verdorben und gekrümpelt, weil das Futter oder das
Inlett anders auf den Regen reagiert habe als der Oberstoff.
Wir geben einander zum Abschied die Hand. Ich denke, daß wir
einander wiedersehen werden.
Jan Sobottkas Website catonbed.de will ich mir erst ansehen, wenn
ich die flüchtige Begegnung mit ihm aufgeschrieben haben werde.
Heinrich
Dreidoppel, Metropolenpeople,
Aufzeichnungen zu flüchtigen Begegnungen,
bisher unveröffentlicht, 21.Juni 2006
Texte
als txt.Datei
(download)
|